Was ist der Vagusnerv und welche Aufgabe hat er?
Der Vagusnerv steuert fast alle unsere inneren Organe. Wie der Vagusnerv funktioniert, was er für die eigene Gesundheit bedeutet und was er mit dem Hungergefühl zu tun hat, erklärt Neurowissenschaftler Dr. Nils Kroemer im Interview.
Herr Dr. Kroemer, was ist der Vagusnerv eigentlich?
Der Vagusnerv ist einer der Hirnnerven, der relativ viele Organe des menschlichen Körpers beeinflussen kann. Als einziger Hirnnerv reicht er vom Gehirn über das Herz, die Lungen, Leber und Milz bis in den Magen-Darm-Trakt. Sein Name kommt vom lateinischen „Nervus vagus“, was so viel wie "umherwandernder Nerv" bedeutet. Er leitet sich von der Idee ab, dass der Nerv weitläufig in unserem Körper umherschweift. Er übermittelt die Funktionen der inneren Organe an unser Gehirn und ist an der Regulierung des jeweiligen Organs direkt beteiligt. Als Teil des Parasympathikus und Gegenspieler zum Sympathikus steuert der Nervus vagus das parasympathische vegetative Nervensystem und damit unbewusst ablaufende Funktionen im Körper. So spielt der Vagus beispielsweise bei der Verdauung, Atmung, Herzfrequenz, Speichelbildung oder der Nierenfunktion eine wichtige Rolle.
Der Vagusnerv fungiert als Datenautobahn zwischen Gehirn und Organen.
Wenn wir zum Beispiel hungrig sind, kommuniziert der Vagusnerv das Bedürfnis des Magens nach Nahrung an unser Gehirn und übersetzt das Hungergefühl, damit wir den knurrenden Magen nachvollziehen können. Der Vagus steuert damit also auch unser Verhalten und unsere Reaktionen auf die Umwelt. Denn wenn wir hungrig sind, begeben wir uns auf die Suche nach Nahrung.
Der Vagusnerv nimmt also direkten Einfluss auf unser Wohlbefinden und unsere Gesundheit?
Allerdings! Er fungiert in erster Linie als wichtige Schnittstelle, als Datenautobahn zwischen Gehirn und Organen, um unseren Körper im gesunden Gleichgewicht zu halten. In der Wissenschaft sprechen wir von Homöostase: dem Zustand, in dem alle unsere physiologischen Körperfunktionen stabil und ausgeglichen sind.
Dazu gehört ein geregelter Energiehaushalt ebenso wie der Blutdruck und unser Sättigungsgefühl: Wenn wir weder hungrig noch übermäßig satt sind, befinden wir uns in einem normalen Zustand, in dem wir uns anderen Dingen widmen können. Der Vagusnerv signalisiert uns also, ob unsere menschlichen, organischen Grundbedürfnisse gedeckt sind und ob wir uns entspannen können oder anstrengen sollten. Bei einem äußeren Reiz in Form von Stress hilft uns der Nervus vagus angemessen darauf zu reagieren, indem wir beispielsweise die Herzfrequenz und die Atmung anpassen. Nach der Stresssituation sorgt der Vagus dafür, dass der Körper wieder in einen Entspannungszustand gelangt.
Wie kommt es, dass ein so wichtiger Bestandteil unseres Körpers vergleichsweise wenig Aufmerksamkeit erhält?
Nerven kann man sich – anders als zum Beispiel den Darm, das Herz oder die Muskeln – nur schwer bildlich vorstellen. Über den Vagusnerv machen wir uns daher wenige Gedanken und sind uns nicht bewusst, dass etwa Hungergefühle nicht direkt aus dem Magen kommen, sondern über den Nerv kommuniziert werden.
Trotzdem gewinnt er zunehmend an Bedeutung: In der Neurowissenschaft erforschen wir aktuell neue Therapieverfahren, um durch die Stimulation des Vagusnervs verschiedene Erkrankungen zu behandeln. Damit könnte der Hirnnerv in den kommenden Jahren auch in der breiten Bevölkerung immer bekannter werden.
Was bedeutet es, den Vagusnerv zu stimulieren – und was erhoffen sich Neurologen davon?
Ziel der Vagusnerv-Stimulation ist es, sich die körpereigenen Steuerungsmechanismen des Nervs zunutze zu machen. Dazu können spezielle Stimulationsgeräte am Ohr angesetzt werden, denn dort verläuft ein Strang des Vagusnervs. Durch elektrische Impulse lässt sich dieser daraufhin so stimulieren, dass auch Hirnsignale verändert werden. Diese Signale könnten jemandem helfen, der an extremem Übergewicht leidet und dessen Sättigungs- und Hungergefühl aus dem Takt geraten ist, um wieder in die richtige Spur zu gelangen.
Die elektrische Stimulation trickst das Gehirn aus und suggeriert ohne Nahrungszufuhr ein Sättigungsgefühl, das über den Vagusnerv weitergeleitet wird. Nicht immer aber ist es so einfach – es gibt eine breite Palette an Verhaltensweisen, von Glücksgefühlen bis hin zu besonderen sozialen Situationen, in denen wir mit Absicht aus dem Gleichgewicht treten und unser natürliches Hunger- bzw. Sättigungsgefühl ignorieren. Alkohol und Zigaretten sind prominente Beispiele, die der eigenen Gesundheit nicht zuträglich sind, aber trotzdem bewusst konsumiert werden.
Auch im Bereich der psychischen Gesundheit wird aktuell geforscht, wie sich der Vagusnerv bei chronischem Stress, innerer Unruhe und Depressionen aktivieren lässt, um die Stimmung und Motivation zu verbessern. Ziel ist es, Betroffenen dabei zu helfen, angemessen mit Stresssituationen umzugehen und danach schneller wieder einen entspannten Zustand zu erreichen.
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Kann man den Vagusnerv auch selbst trainieren? Helfen Entspannungstechniken und körperliche Übungen, um ihn zu aktivieren?
Der Vergleich zu Entspannungsverfahren wie Meditation und Yoga liegt zwar nahe, wissenschaftlich erwiesen ist der Zusammenhang mit dem Vagusnerv jedoch nicht. In die Funktion des Vagusnervs wird aus esoterischer Sicht viel hineininterpretiert, immerhin hängt er mit vielen unserer Organe zusammen und nimmt damit indirekten Einfluss auf unser Wohlbefinden.
Eine kalte Dusche beispielsweise dämpft den Sympathikus und aktiviert den Parasympathikus. Da der Vagusnerv ebenfalls zu diesem Nervensystem gehört, wird er indirekt durch das kalte Wasser stimuliert. Ihn aktiv durch entspannende Übungen im Alltag ansteuern zu können, darüber ist nachweislich jedoch nichts bekannt. Anders als ein Muskel lässt sich der Nerv nicht gezielt trainieren. Allgemein tragen Meditation und bewusstes Atmen dazu bei, besser mit Stress umgehen zu können. Dies hat letztendlich auch einen positiven Effekt auf unsere Gesundheit.
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Eine Ausnahme bildet die professionell angewandte Akupunktur, die am Ohr ähnliche Effekte erzeugen könnte wie die elektrische Stimulation, aber auch hier wissen wir noch zu wenig darüber, wie lange diese Effekte tatsächlich im Gehirn anhalten. Grundsätzlich gilt: Wer gesund und aktiv lebt, sich vernünftig ernährt und das eigene Verhalten regelmäßig reflektiert, hat im Alltag gute Voraussetzungen für das innere Gleichgewicht.
Die Stimulation des Vagusnervs steckt dagegen noch in der Forschung, bietet aber großes Potenzial, um in den kommenden Jahren als echte Behandlungsalternative bei bestimmten Erkrankungen wie Adipositas, Depressionen, epileptischen Anfällen oder chronischen Schmerzen eingesetzt zu werden, die wir bisher nicht ausreichend mit nicht-invasiven Methoden behandeln können.